„Bitte, du darfst jetzt nicht denken, ich wolle dich veralbern. Ich hab mir lange überlegt, wie ich es dir sagen könnte, und dachte, so würdest du es vielleicht am ehesten verstehen. Ich habe das Rezept wirklich aus deinem Kopf! Ich … kann ein wenig Gedanken lesen.“
Hettie konnte – was?!
Wenn sie mich nicht so besorgt und aufmerksam im Blick behalten hätte, hätte ich an ihrem Verstand gezweifelt.
„Du meinst das ernst“, stellte ich fest. „Und … wie machst du das?“
„Ich sehe Bilder aus den Erinnerungen anderer. Manche kann ich schlecht deuten, sie sind flüchtig und blass wie Träume“, begann sie zu erzählen. „Andere sehe ich wieder genauer. Warum ich dir bisher nichts davon erzählt habe, kannst du dir ja denken. Es hat mir in meinen Jugendjahren wirklich nichts Gutes gebracht, und mit der Zeit habe ich fast vergessen, dass ich es kann. Als ich in deinem Alter war, wurde ich deswegen ausgelacht und für verrückt gehalten. Sogar meine eigene Familie hat mich zurückgewiesen.“
Hetties Blick wanderte zum Fenster. Ihre alten dürren Hände zerknautschten ein besticktes Taschentuch, während sie fortfuhr: „Am Schlimmsten wurde es, als der Krieg begann.“
Vorsichtig fragte ich, was denn passiert sei.
„Sie haben mich im Frühjahr 1940 in eine Schweizer Irrenanstalt gebracht, weil ich ununterbrochen an Albträumen und Angstattacken litt. Ich wollte es ihnen erklären, ich wollte sie warnen!“ Ihre Augen schwammen in einem feuchten Film, als sie wieder Blickkontakt suchte. „Aber keiner hörte mir zu. Als mein Vater und meine Freunde in den Krieg zogen, sah ich sie in irgendwelchen Schützengräben verbluten. Ich sah meine Tante nach einem Bombenangriff aus einem brennenden Haus laufen und wie sie von den Trümmern zu Tode gequetscht wurde. Es ist so schlimm, wenn dir keiner zuhören will!
Nachdem ich meiner Mutter davon erzählte, besuchte sie mich nicht mehr. Angeblich konnte sie sich die ständigen Reisen nicht mehr leisten, aber das war nur vorgeschoben. Sie hatte Angst vor mir und noch mehr Angst vor dem, was ich sah. Alle hatten sie Angst oder schämten sich für die verrückte Hettie.
In der Anstalt setzten mich die Ärzte unter Drogen, bis ich schließlich in einer Ecke meines Zimmers saß und kaum mehr bei Verstand Löcher in die Wand starrte. Man ließ mich einfach in diesem Dämmerzustand zwischen Träumen und Wachsein zurück, damit ich keinem zur Last fiel. Als die Rechnungen nicht mehr bezahlt wurden, entließen sie mich einfach. Keiner sprach mit mir darüber, dass ich wirklich gesehen hatte, was aus meiner Familie wurde. Ich fand mich einfach in einer zertrümmerten Welt wieder, als ich mit dem Kriegsende nach Deutschland zurückkehrte.
Ich wollte von vorn anfangen, ich wollte mein altes Leben völlig hinter mir lassen. Dazu gehörte vor allem, dass ich nie wieder Gebrauch von dieser Gabe machte. Ich habe einfach alles verdrängt, ich habe es vergessen wollen, aber das geht wohl nicht.“
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