Ich habe die Nase gestrichen voll!
Es ist Sonntag. Mein freier Sonntag, wohlgemerkt. Und es regnet. Und damit ist mein Schicksal besiegelt. Anstatt gemütlich mit Kaffee und dem neuen Roman faul in meinem Bett zu liegen, stehe ich mir in der Eiseskälte die Beine in den Bauch. Und warum? Weil ich kein schlechter Mensch bin, sondern Single.
Sam hat die Nacht durchgemacht und ist unfähig, seine Schicht zu schieben. Er hat mich am frühen Morgen sturzbetrunken per Handy aus dem Schlaf geklingelt und angebettelt, für ihn einzuspringen.
»Du hast doch bestimmt nichts vor heute, oder? Hey, es ist Sonntag? Du bist Single! Boooring!«, tönte es durchs Telefon. Danke für den Spiegel! Ja, ja, Sonntag. Eben!
Nun ja, wenn ich ehrlich bin, konnte ich mich sowieso kein Stück auf den Roman konzentrieren. Liebesschnulze, vor Schmalz triefend, ist wohl doch nicht das, was ich zur Zeit lesen sollte. Schon nach den ersten fünf Seiten, auf denen sich das zukünftige Liebespaar viele tiefe Blicke zugeworfen hat, habe ich bemerkt, dass ich einfach noch nicht bereit bin, mich auf diese Gefühlsduselei einzulassen. Und sei es auch nur auf dem Papier. Die Sache mit Stefan sitzt mir noch zu sehr in den Knochen. Und außerdem: Liebe auf den ersten Blick. Ha! So ein Quatsch!
Letztendlich war ich froh, dass Sams Anruf mich da rausgeholt hat. Auch wenn ich das ihm gegenüber niemals zugeben würde!
Mutterseelenallein stehe ich nun im Glühweinstand und schaue den Tropfen zu, die vom Dach auf den Tresen fallen. Plitsch. Platsch. Plitsch. Platsch.
Genervt stelle ich mich an die Tür und zünde mir eine Zigarette an. Schon die Dritte seit Beginn meiner Schicht. Mist. Und dabei wollte ich weniger rauchen.
Sonntage auf dem Weihnachtsmarkt sind normalerweise toll. Familientag. Die Eisbahn ist voll besetzt, die Musik aufgedreht, die Leute gut drauf und die Hütte brummt. Glückliche Menschen überall und reichlich Trinkgeld. Doch wenn es regnet, kommt niemand. Außer ein paar Touristen vielleicht, die sich verirrt haben.
In der Regel schieben wir die Sonntagsschicht zu zweit, weil es alleine nicht zu schaffen ist. Bei diesem Wetter aber ist einer bereits zu viel. Ich würde am liebsten dichtmachen. Sehnsüchtig denke ich an mein Bett, den Kaffee und … irgendwo habe ich bestimmt noch einen Thriller rumliegen, den ich lesen könnte. Ich seufze.
Nikki braucht nicht zu erscheinen. Ich schreibe ihr eine Whats App und gratuliere ihr zu ihrem freien Tag. Sie liegt bestimmt noch im Bett, dreht sich nochmal um und lässt sich von ihrem Alex verwöhnen. Boah, was für eine bodenlose Ungerechtigkeit!
»Oh Alex. Ja, komm her, mein Schatz. Bussi«, äffe ich ihre Stimme nach und lache mich dann weg dabei. »Oh ja, komm, meine Zuckerpuppe. Aber nein. Aber doch. Ja, fester. Nein, tiefer. Nein ... Uuuuups.«
Bäm!
Ich blicke in die blauesten Augen, die ich jemals gesehen habe.
Boden tu dich auf und verschluck mich! Sofort! Ach du heilige Scheiße! Ist das peinlich.
Ich spiele Shades of Grey nach und habe Zuschauer, ohne es zu bemerken. Schnell drehe ich mich um und kneife die Augen zu. Mist, Mist, Mist! Mein Puls galoppiert auf Abwegen, ich schäme mich abgrundtief und bin gleichzeitig aufgeregt wie ein Teenager. Verdammt! Dieses Blau ...
Vielleicht ist es nicht wahr, wenn ich nicht hinsehe. Vielleicht habe ich mich getäuscht. Vielleicht steht da niemand, hat da nie jemand gestanden und wird da auch nie jemand stehen. Und diese himmelblauen Augen sind nur die höllische Ausgeburt meiner unbefriedigten, erotischen Fantasien. Ich hebe hoffnungsvoll ein Lid und versuche aus dem Augenwinkel heraus etwas zu erkennen, aber ich sehe nichts.
Vielleicht ist er ja bereits wieder weg? Wer bleibt schon freiwillig bei einer nymphomanen, alkoholisierten Kettenraucherin wie mir stehen? Diesen Eindruck dürfte ich hinterlassen haben. Wenn er einigermaßen bei Trost ist, hat er ohnehin schon das Weite gesucht.
Ich höre das Platschen der Regentropfen auf dem Tresen nicht mehr. Hat es aufgehört zu regnen? Ich werfe einen Seitenblick über die andere Schulter. Nein, es gießt wie aus Eimern.
Mein Herz hat sich wieder etwas beruhigt und ich traue mich, wenigstens einen kurzen Blick in seine Richtung zu werfen. Autsch!
Diese Augen sind immer noch da.
Bis mir endlich auffällt, dass mein Verhalten dem eines Kindergartenkindes gleichkommt, sind weitere zehn Sekunden vergangen. Ich räuspere mich, straffe die Schultern und ziehe den Bauch ein, bevor ich all meinen Mut zusammennehme und mich langsam umdrehe.
Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde zu erfassen, wie es um die blauen Augen herum aussieht, und mein Herz setzt einen langen Schlag aus. Die Welt um mich herum verschwimmt. Ich blende alles aus, nehme nichts mehr wahr. Ich bin gefangen in seinem Blick. Nur er und ich. Sonst nichts.
So oft habe ich davon gelesen. Es in Filmen gesehen und mir immer gewünscht, die besondere Magie irgendwann einmal selbst zu spüren. Die Sehnsucht danach hat mich immer begleitet, doch fürs wahre Leben habe ich nie wirklich dran geglaubt: an die Liebe auf den ersten Blick. Und jetzt?
Mein Hals ist trocken und in mir bricht das absolute Chaos aus. Tausende von Ameisen haben Besitz von meinem Körper ergriffen und jeder Quadratmillimeter meiner Haut kribbelt wie verrückt. Ich bin nicht in der Lage, klar zu denken. Mein Gehirn hat sich gerade Urlaub genommen. Das Einzige, was ich schaffe, ist, ihn fasziniert anzustarren.
Er steht noch da. Und grinst unglaublich sympathisch. Und als würde es nicht ausreichen, dass diese blauen Augen von dunklen, langen Wimpern umrahmt werden, bilden sich jetzt auch noch kleine Lachfältchen drum herum. Abwartend sieht er mich an und kurz darauf durchtrennt eine Stimme den Nebel, in dem ich mich befinde.
»Hey«, sagt sie. Einfach nur Hey. Einfach nur ein Wort. Ein Wort, das reicht, um mich gänzlich umzuhauen. Ich glaube, ich habe mich soeben verliebt. Verdammt!
Plötzlich knallt es. Ich zucke zusammen und schaue zur Eisbahn. Die Musik ist aus und ich begreife, dass es ein Kurzschluss der Anlage gewesen sein muss, der mich so erschreckt hat. Doch zumindest hat mich das Knallen wieder in die Gegenwart zurückgeholt.
Mein Blick hastet zurück, doch anstatt ihn weiter anzustarren, wandern meine Augen ein Stück tiefer. An der Stelle, wo die Pfütze auf dem Tresen war, steht nun ein Becher, in den die Tropfen lautlos hineinfallen. Ich nicke anerkennend. »Respekt!« Die Idee hätte auch von mir sein können.
Meine Mundwinkel finden ihren Weg nach oben, und als ich den Lacher nicht mehr zurückhalten kann, stimmt er mit ein. Weich. Melodisch. Tief. Perfekt. Ich bekomme Gänsehaut und meine Nackenhärchen stellen sich unter dem dicken Schal wie kleine Soldaten in einer Reihe auf. Mir ist heiß.
Seine Zähne sind weißer als weiß und strahlen mich an. Ich konzentriere mich darauf, nicht ohnmächtig zu werden und versuche zu retten, was zu retten ist.
»Das eben ...«, setze ich an und will auf meine peinliche Erotikeinlage zu sprechen kommen, doch er winkt ab.
»Hey, alles gut. Du hast ein Theaterstück geübt, right? Ich hab das schon mal irgendwo gehört, aber ... ich weiß grad nicht wo.«
Ich nicke wie betäubt. Theater. Klar. Gute Idee. Hätte auch von mir sein können.
Aber ... diese Stimme ... Ich knicke ein und muss mich tatsächlich vor seinen Augen am Tresen festkrallen. Er spricht mit Akzent. Er ist Amerikaner. Oder Engländer. Oder gar Schotte? Ich würde so gerne mal unter einen Schottenrock gucken. Ob er mich lassen würde? Trotz meiner wackeligen Knien muss ich auflachen.
Bisher konnte ich von mir behaupten, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Nicht leichtgläubig zu sein und schon gar nicht auf jeden gut aussehenden Typen reinzufallen, der mir schöne Augen macht. Schon gar nicht nach den Erfahrungen, die ich bisher machen musste. Doch jetzt – Bäm! – ist plötzlich alles anders.
Meine Knie zittern, innerlich koche ich und ich merke, dass dieses dämliche Dauergrinsen nicht mehr aus meinem Gesicht verschwinden will. Zweiunddreißig Zähne, alle oben. Ich kann nicht mehr klar denken, geschweige denn reden, stammele wirres Zeug, und um mich herum steht die Welt still. Meine Augen kleben an einem Mann, den ich zum ersten Mal in meinem Leben sehe, und saugen sich fest. Ich habe keine Chance.
Ich kann es selbst nicht glauben und ich hoffe irgendwie, dass dieser Moment nicht wirklich ist. Aber irgendwie doch.
Er bewegt sich und strahlt mich an. Ich räuspere mich und sammele die Worte in meinem Kopf zusammen, um etwas Geistreiches über meine Lippen zu bringen.
»Möchtest du vielleicht etwas trinken?« Wahnsinnig geistreich! Er nickt und lächelt mich dabei ununterbrochen an.
»Gerne.«
»Was denn?« Wo ist mein Wortschatz hin, wenn ich ihn mal brauche?
»Glühwein?«
»Einen Glühwein? Klar!« Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter.
»Okay ... ähm ... Ich mach dir ... ähm ... Was magst du denn rein haben?« Schlimmer geht’s nimmer, oder? Ich senke genervt den Kopf und schaue auf meine Fußspitzen. Dann lasse ich meinen Blick den Boden entlang wandern, in der Hoffnung ... Aber da hat sich noch immer kein Loch aufgetan.
»Mach mir doch das Gleiche, was du trinkst. Du trinkst doch einen mit mir, oder?« Er denkt wirklich, dass ich Alkoholikerin bin. Super. Womit habe ich das verdient?
Aber ich nicke, und ohne etwas zu erwidern, drehe ich mich um, hole zwei vorgewärmte Becher aus dem Schrank und frage mich, was er wohl mag? Rum? Amaretto? Whisky? Oder Sambuca? Vielleicht trinkt er auch Wodka? Obwohl – nein, wie Wodka sieht er nicht aus. Eher wie Rum. Ja, ich entscheide mich dafür, dass er der Rumtyp ist. Das hat sowas von Jonny Depp in »Fluch der Karibik«. Verwegen und – halt! Stopp! Kopfkino aus.
Ich merke, wie meine Hand zittert, während ich den Glühwein auf den Rum laufen lasse. Ich bin aufgeregt wie ein Teenager. Verdammt! Sonst bin ich die Coolness in Person. Meistens. Oder wenigstens manchmal. Doch heute will sich nichts Cooles einstellen. Mag am Regen liegen. Oder an ihm.
Ich drehe den Hahn zu und verbrenne mir die Finger dabei. Mein Gott bin ich blöd. Als würde ich das zum ersten Mal machen. Ich lasse stumm eine Tirade Schimpfwörter auf mich los und drehe mich zu ihm herum. Die Befürchtung, dass er nicht mehr da wäre und ich gleich zwei Glühwein mit Rum alleine trinken müsste, bestätigt sich nicht. Erleichtert stelle ich seinen Becher vor ihm ab. »Bitteschön.«
»Dankeschön.« Er lächelt immer noch, während er den Becher an die Nase führt und daran riecht. »Rum«, erkennt er. »Woher wusstest du das?«
Jonny Depp – ich liebe dich. »Ich hab gedacht, dass es ... am ehesten zu dir passt«, stottere ich und nippe an meinem Glühwein.
Uh, da hab ich es aber gut gemeint mit dem Schuss. Ich bemühe mich, nicht das Gesicht zu verziehen, was mir nach dem ersten Schluck ziemlich schwerfällt. Ich hoffe nur, dass der geheimnisvolle Fremde in der Beziehung tatsächlich etwas von Jack Sparrow hat und hart im Nehmen ist.
»Hey, ich bin John«, sagt er und streckt mir über den Tresen hinweg die Hand entgegen. Ich ergreife sie wie in Zeitlupe. Weich, warm, fest. Und gepflegt. Wow!
Ich habe den Tick, bei Männern als Erstes auf die Hände zu achten. Ich verabscheue nichts mehr, als abgeknabberte Nägel, zerfetzte Nagelhaut oder – noch schlimmer – so viel Dreck unter den Nägeln, dass man darunter Kartoffeln pflanzen könnte. Aber John ohne Nachnamen hat schwielenfreie, saubere und vor allem weiche Hände.
»Jo«, sage ich, und während ich das ausspreche, wird mir bewusst, dass wir beide fast denselben Namen haben. Schicksal?
John hält meine Hand etwas länger fest als nötig und sein Blick geht mir tief unter die Haut. Ich bin hin und weg und fühle mich wie in einem falschen Film. Mein Puls rast und ich erzittere unter seiner Berührung. Scheiße!
Er zieht seine Hand wieder zurück, greift nach seinem Becher, führt ihn an den Mund und trinkt einen Schluck, während seine blauen Augen mich über den Becherrand fixieren. Ich verfolge jede seiner Bewegungen ganz genau, beobachte und sauge seinen Anblick in mich auf. Und ich merke – ich bin verrückt!
Ich bin achtundzwanzig Jahre alt, erwachsen sozusagen, und dann passiert mir sowas? Ich verliebe mich innerhalb von Sekunden in einen Mann, dem ich zum ersten Mal gegenüberstehe, von dem ich nicht weiß, woher er kommt oder wohin er geht, und den ich vielleicht niemals wiedersehen werde.
Sowas kann auch nur mir passieren ...
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