Benu spannte seine Muskeln an. Er spürte wie sich sein Körper auf die Beschleunigung freute. Jedes Mal, wenn er diesen Impuls wahrnahm, dachte er an Windhunde, die in ihren Boxen auf den Startschuss warteten. Sein Kollege Toni hob die Augenbrauen minimal an: „Reif für einen Sprint?“
Kaum hatte er die Frage gestellt, löste er sich bereits aus der Gruppe. Benu verlängerte seine Schritte und wurde schneller, viel schneller. Seine Füße trommelten im Rhythmus auf den kurzen Rasen, während die feuchte Luft in seine Lungen kroch. Der lästige Nebel begann an ihm zu kleben wie ein nasser Mantel, der seine Bewegungsfreiheit einschränkte. Drei Meter vor ihm kämpfte Toni. Seine Beine rammten sich in das Gras, als ob sie mit jedem Auftreten etwas vernichten wollten. Normalerweise lief sein Kollege auch in hoher Geschwindigkeit leichtfüßig und unbeschwert. Meist drehte er dann auch den Kopf und rief ihm freche Bemerkungen zu. Aber heute konnte Benu nur seinen Rücken sehen. Obwohl Toni ehrgeizig war, war er nie verbissen. Doch diese Person vor ihm hatte nur ein Ziel vor Augen. Sie wollte gewinnen! Benu warf einen Blick zurück. Sie hatten alle anderen abgehängt. Der Läufer vor ihm musste Toni sein. Er war der Einzige gewesen, der sich mit ihm aus dem Pulk gelöst hatte. Aber irgendetwas an ihm war fremd, fremd und unheimlich. So ein Quatsch, dachte Benu und zog das Tempo an.
Bis jetzt war das Ganze für ihn ein lockeres Warm up gewesen, doch wie aus dem Nichts befand er sich im Gegenwind. Der kalte Wind versuchte ihn nach hinten zu drücken, zurück zu seiner Gruppe.
„Lauf nicht weiter, lauf nicht weiter!“, säuselte er.
Verdammt, er hasste diese Stimmen! Immer wieder suchten sie ihn auf, um ihn in Beschlag zu nehmen, um seine Aufmerksamkeit abzulenken, um ihm für kurze Zeit sein Bewusstsein zu rauben. Er haderte mit sich selbst. Gab es diese Stimmen wirklich oder waren sie nur ein Hirngespinst? Sein Hirngespinst? Er konnte sie nicht zum Schweigen bringen, nein, er konnte sie nicht einmal ignorieren. Verunsichert blickte er zu der einzigen Birke, die kerzengerade, mitten in den Kensington Gardens stand, bewegungslos wie eine Statue. Warum zeigte sich der starke Wind weder in ihren dicken Ästen noch in ihren dünnen Zweigen? Eigenartig, nicht die leiseste Brise war zu erkennen! Benu biss die Zähne zusammen. Ein kurzer, ganz kurzer Sprint und er hätte Tonis schwere Schritte eingeholt. Doch er konnte kaum gegen den Wind antreten. Erschöpfung, Müdigkeit und der Wunsch aufzugeben umspielten seinen Geist und seinen Körper. Er war nass geschwitzt, doch innerlich fühlte er sich eiskalt.
Tonis weite Trainingshose wurde von dem starken Gegenwind nach hinten geweht. Mit einem Windstoß befreite sich der Stoff von seiner Naht, die ihn gezwungen hatte, diese Form anzunehmen. Er umspielte die muskulösen Beine des Läufers und verwandelte sich in einen langen Rock. Benu kniff die Augen zusammen. Einen Rock? Doch das war noch nicht alles. Vor ihm rannte jetzt eine Person mit freiem Oberkörper. Aber der Oberkörper war viel zu dunkelhäutig! Viel zu klobig! Viel zu breit! Irgendetwas stimmte nicht. Was geschah mit ihm? Wen verfolgte er? Oder besser gesagt, wer lockte ihn fort von seinen Kollegen, hinein in die Einsamkeit? Die Gestalt vor ihm kam eindeutig aus einer anderen Zeit. Er sah es an ihrer Kleidung, an der Art, wie sie sich bewegte, und an dem Schmuck, den sie trug. Eigentlich musste Benu den Läufer nicht einmal einholen, um seine Herkunft zu erfahren. Es war eindeutig! Warum, warum wurde er immer wieder mit seinen ägyptischen Wurzeln konfrontiert? Sie trieben doch tief, tief unter der Erde. Was wollte dieser Typ von ihm und wie hatte er ihn so in die Irre führen können? Benus Wut gab ihm genügend Kraft, um noch einmal zu beschleunigen. Doch noch bevor er neben den geheimnisvollen Läufer gelangte, drehte dieser seinen Kopf zu ihm: Ein kahlgeschorener Ägypter, dessen Augen aus zwei ausdruckslosen schwarzen Linsen bestanden, lächelte ihn an. Um seinen Hals baumelte das Auge des Horus.
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